2015: Zweihundertsten Jahrestag der Geburt von Konstantin von Tischendorf

Im Frühling 1844 hat sich ein deutscher Wissenschaftler, Bibelforscher und Kenner der antiken Handschriften, von dem italienischen Livorno auf den Weg nach Ägypten gemacht. Nachdem das Schiff am Ufer von Alexandrien angelegt hatte, gelangte der Reisende nach Kairo, von da er einen Ausflug zu einem gewissen Kloster auf der Sketischen Wüste gekauft hat. Von dort war der Weg bis zum Fuß von Sinai nicht mehr weit. Nachdem Konstantin von Tischendorf – von ihm ist hier nämlich die Rede – an die Pforte des St. Katharinenklosters geklopft hatte, empfangen ihn die Mönche sehr freundlich. In dem Kloster selbst ist jedoch das Feuer des Wissens und der wissenschaftlichen Forschungen nicht mehr – wie viele Jahrhunderte lang – glühte. Es wurden dort eher Bücher niedergebrannt. Die Bibliothek war angeblich in einem erbärmlichen Zustand. Kyrill, ein Mönch, der für die Volumen sorgte, hat in der Mitte des Saals einen Korb gestellt, in den er vernichtete und unbenutzte Bücher getan hat. Es war Mai 1844. Tischendorf erinnert sich daran in folgenden Worten:

Als ich im St. Katharinenkloster am Fuß des Sinai im Mai 1844 die Bibliothek untersuchte, stand in der Mitte derselben ein großer breiter Korb mit einer Anzahl alter Pergamentreste. Der Bibliothekar, ein wohlunterrichteter Mann, sagte mir, dass ähnliche Überreste, zwei Kӧrbe voll, ins Feuer geworfen worden seien. Wie groß war mein Erstaunen, in der dritten Füllung des verhängnisvollen Korbes eine beträchtliche Anzahl Blätter von einer griechischen Bibel des Alten Testaments zu finden, die sogleich den Eindruck einer der ältesten, die ich je gesehen, machte.

 

Die Klosterbehörden haben Tischendorf erlaubt, ein Drittel dieser Sammlung zu behalten, d.h. genau 43 Blätter – da sie sowieso verbrannt werden sollten.  Er war zu erregt, um die übrigen Fragmente zu erbitten, hat also nur die Mönche instruiert, dass sie auf die Pergamente achten sollen.

Als Tischendorf diese Erinnerungen veröffentlicht hat (es war einige zehn Jahren nach der Entdeckung), hat sich die Geschichte von den ältesten Bibelblättern in einem Mülleimer wie ein Lauffeuer verbreitet. Bis heute wird sie als eine der unglaubwürdigsten Geschichten von den Entdeckungen der biblischen Archäologie wiederholt. Es gab Wissenschaftler, die über die Mönche von Sinai entrüstet waren wegen deren Respektlosigkeit den heiligen Texten gegenüber. Manche Forscher haben an solchen Verlauf der Ereignisse, wie ihn der Entdecker geschildert hat, gezweifelt. Es gab schließlich auch solche, die sich direkt gegen ihn gerichtet haben, indem sie meinten, dass er sich selbst zum Helden machte. Auch wenn die Erzählung von Tischendorf ein bisschen übertrieben ist und voll von Verzierungen – haben doch die großen Globetrotter des 19. Jh.s nicht ebenso gemacht? Die Geschichte sollte faszinieren und die Vorstellungskraft erregen, anziehen und zum Abenteuerrisiko ermuntern. Sie sollte lehren und begeistern.

Nach der Rückkehr nach Deutschland haben die akademischen Kreise von Sachsen den Wert der Funde bald erkannt. Tischendorf selbst hat jedoch deren Herkunftsort nicht verraten, in der Hoffnung, dass er noch zum Sinai fährt und die übrigen Karten des Kodex erwirbt. Aus Dankbarkeit für die teilweise Finanzierung der Reise hat Konstantin den Behörden von Sachsen ca. 50 interessante Manuskripten überreicht. Sie wurden in die Bibliothek in Leipzig gebracht, in die Sammlung, die mit dem Namen des Entdeckers versehen wurde. Dieses Schicksal hat auch die Bibelblätter aus dem St. Katharinenkloster geteilt. Der Forscher hat sie „Kodex von Friedrich August” genannt, aus Dankbarkeit für die Schirmherrschaft des Königs von Sachsen über den ganzen Zug nach Osten.

Danach hat Konstantin, schon in einer ruhigeren Stimmung, die Arbeit an der Veröffentlichung begonnen. Er hatte vor, jede Buchstabe möglichst genau mithilfe der Lithografie wiederzugeben. Die Technik der Lithografie beruht daran, dass man auf einen flachen Stein mit einem Buntstift oder mit der Tinte eine Zeichnung macht – in diesem Fall den Text des Kodex – und dann die ganze Fläche mit Salpetersäure oder Gummiarabikum bedeckt. Der Stein wird mit Wasser begossen und mit Druckfarbe bedeckt. Die Farbe füllt nur diese Fragmente, die mit Gummiarabikum oder Salpetersäure bedeckt sind. Auf diese Weise, durch die mühsame Arbeit, ist das Werk entstanden, das 1846 in Leipzig erschienen ist unter dem Titel Codex Friderico-Augustanus: sive fragmenta Veteris Testament e codice Graeco omnium qui in Europa supersunt facile antiquissimo in oriente detexit in patriam attulit ad modum codicis edidit C. Tischendorf. Es enthielt alle 43 Karten, mit dem Teil des ersten Buches der Chronik, einem Teil des zweiten Buch Esra, das Buch Ester, die ersten Sätze des Buches Tobit, den größten Teil des Buches Jeremias und Fragmente der Klagelieder. In derselben Zeit hat der Forscher eine Reihe von Aufsätzen in den Wiener Jahrbüchern für Literatur veröffentlicht, die über die meisten Entdeckungen handelten, welche er während seiner fast fünfjährigen Abwesenheit in Deutschland gefunden hat.

Während dieser mühseligen Arbeit war Tischendorf mit seinen Gedanken am Sinai. Er hat sich entschieden, einen von seinen einflussreichen Freunden um Intervention im Kloster zu bitten. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass die Mönche schnell gehandelt haben. „Bald nach Deiner Abreise haben die Ordensbrüder geahnt, mit welch einem wertvollen Fund sie zu tun haben und wollen ihn um nichts in der Welt abtreten” – hat in einem Brief an Konstantin der Bekannte von Ägypten geschrieben. Der unzufriedene Forscher hatte keine Wahl. Er hat beschlossen, nochmals nach Osten zu fahren.

Es war Januar 1853, als Tischendorf von Leipzig nach Triest ging, um von da mit dem Schiff nach Ägypten zu fahren. Im St. Katharinenkloster ist er im Februar angetroffen. Dieser Aufenthalt war in gewissem Sinne erfolgreicher als der frühere. Der Manuskriptensucher gelangte an die größere Menge von antiken biblischen Texten denn je. Es ist ihm jedoch nicht gelungen, die übrigen Blätter des wertvollen Schatzes zu finden. Eine Ausnahme bildete ein kleines Stück, auf beiden Seiten mit einigen Sätzen aus Genesis vollgeschrieben. Dieser Fund war gering, hat jedoch Tischendorf überzeugt, dass „seine” Handschrift eine Aufzeichnung der ganzen Bibel war.

Nach seinem zweiten Besuch am Sinai – während dessen es ihm nicht gelungen ist, den übrigen Teil des Kodex zu finden – hat Tischendorf das Faksimile einer der Karten der 1844 entdeckten Handschrift veröffentlicht, dabei ihren Herkunftsort nicht verratend. Er hat also gehofft, dass vielleicht inzwischen ein Wissenschaftler an den Sinai kam, die fehlenden Karten fand und sie nach Europa brachte. Konstantin dachte, diese Person, die diese Entdeckung gemacht habe, würde seine Veröffentlichung bemerken und mit ihm unverzüglich Kontakt aufnehmen. Dies ist aber nicht geschehen. Wegen des Scheiterns seiner cleveren Idee verzweifelt und müde von dem Warten auf das Signal von dem eventuellen Entdecker des weiteren Teils des Kodex, hat Tischendorf einen mutigen Vorsatz gefasst. Bereits während seiner Reisen hat er bemerkt, wie die russische Verwaltung von den orthodoxen Mönchen hochgeschätzt wurde. Er hat sich also entschieden, eben die russische Regierung um die Unterstützung bei dem nächsten Zug nach Osten zu bitten.

Dieser Entschluss hat Kontroversen erregt. Die Mönche in Petersburg haben deutlich ihre Unzufriedenheit geäußert. Wie ist es überhaupt möglich, dass es ein Protestant wagt, sich fast an den Zaren selbst zu wenden, der im orthodoxen Lande herrscht? Die Bitte war tatsächlich an den damaligen Minister für Schulwesen Abraham Norow gerichtet. Tischendorf hat die Einzelheiten im persönlichen Gespräche erklärt, glücklicherweise war nämlich Narow kurz nach dem Erhalten der Bitte in Leipzig. Seine Petition hat Tischendorf im Herbst 1856 geschickt. Die Verwirrung dauerte fast zwei Jahre lang, jedoch im September 1858 ist die Regierung der Bitte des Wissenschaftlers nachgekommen und das Geld, um das er gebeten hat, gelangte auf sein Konto. Von einem solchen Lauf der Dinge begeistert hat Konstantin beschlossen, die siebte kritische Ausgabe des Neuen Testaments, an der er Tag und Nacht ununterbrochen drei Monate lang gearbeitet hat, möglichst schnell fertig zu kriegen. Im Januar 1859 war er bereit, wieder nach Osten zu reisen.

An die „Klosterpforte” hat er Ende des Monats geklopft. Nachdem er in einem Korb ins Fenster gezogen worden war, das als Klosterpforte diente (das Gebäude hatte nämlich keine Tore), begrüßte ihn der Ober sehr herzlich und hoffte, dass seine Mission diesmal erfolgreich wird und der Wahrheit dient. Die Mönche haben den Forscher wie den Bruder empfangen. Diese Freundlichkeit erfolgte natürlich aus dem persönlichem Engagement des Ministers für Schulwesen Russlands, und indirekt des Zaren selbst, an das ganze Unternehmen. Konstantin hat sich sofort ans Werk gemacht. Sehr freundlich ihm gegenüber war der Bibliothekar  Kyrillos. Er hatte viel Geduld, während Tischendorf Bibliothekssammlungen durchsuchte, war immer hilfsbereit und hat immer weitere Handschriften zugänglich gemacht. Die Suche in der Klosterbibliothek dauerte einige Tage, brachte jedoch keine zu erwartenden Ergebnisse. Der verzweifelte Forscher ließ die Beduinen bereits am 4. Februar mit den Dromedaren fertig sein, weil er sich jeden Moment entscheiden sollte, nach Kairo zurückzukehren. Er hat den Tag der Abreise vorläufig für den 7. Februar morgen früh festgelegt.

Der Wendepunkt, und damit die Änderung der Stimmung des Wissenschaftlers, kam ganz plötzlich. Am 4. Februar ganz früh ging er die Klostermauern entlang mit einem Mönch spazieren, der für die Versorgung verantwortlich war. Als sie ins Kloster zurückkehrten, ging gerade die Sonne runter. Die rote Kugel verschwand unter dem Horizont und brachte der Erde langen Schatten von nahe stehenden Bäumen und Gebäuden. Alles wurde mit rotem Licht beleuchtet. Es wurde kühler. Der Mönch hat ein erfrischendes Getränk in seiner Zelle angeboten. Als sie sich an einen einfachen Tisch gesetzt haben, um das früher abgebrochene Thema fortzusetzen, hat der Mönch gesagt: „Auch ich habe Septuaginta”. Dabei holte er aus dem Schrank in der Ecke der Zelle einen Ballen, in einen roten Stoff gewickelt, und legte ihn vor Tischendorf. Nachdem der Antiquar ihn entrollt hat, bekam er rote Flecken im Gesicht. Er versuchte jedoch um jeden Preis ruhig zu bleiben.

Als Konstantin mit dem Manuskript in sein Zimmer kam, wurde er sich dessen bewusst, dass er in der Hand nicht nur die wertvollste Handschrift hält, auf die er in seiner zwanzig Jahre langen wissenschaftlichen Karriere gestoßen ist, sondern den wertvollsten biblischen Kodex in der Welt überhaupt! Sogar wenn er sich mehrere Jahre später daran erinnert hat, konnte er seine Emotionen kaum zügeln. Er sagte, dass er die „wertvollste Perle” und den „reichsten Diamant” in der Hand hält. Obwohl das Lampenlicht sehr schwach war und die Nacht kühl war, hat der passionierte Tischendorf die Arbeit an der Kopierung des Briefes von Barnaba begonnen. Über zweihundert Jahre lang hat man erfolglos nach dem griechischen Original  dieser apokryphischen Schrift gesucht. Deren erster Teil war lediglich in einer unvollkommenen lateinischen Übersetzung bekannt. Seit der 2. Hälfte des 2. Jh.s bis zum 4. Jh. hat Der Brief von Barnaba große Autorität in der Kirche genossen, und viele Christen stellten ihn gleich mit den Schriften des Neuen Testaments. Ähnlich war es übrigens auch im Fall des Hirten von Hermas.

Am 5. Februar morgen früh hat Tischendorf den Mönch, in dessen Zelle sich der Kodex befand, gefragt, ob er den Fund nach Kairo fahren dürfte, um dort das Kopieren der Ganzheit zu beenden. Der Mönch wollte jedoch die Entscheidung nicht alleine treffen, und der Ober des Hauses ist nach Kairo gefahren, um dort an der Bischofswahl teilzunehmen und von dort nach Konstantinopel zu fahren. Der Forscher musste schnell handeln. Am 7. Februar am Morgen hat er, von einigen Ordensbrüdern begleitet, das Kloster verlassen und ist nach Kairo gegangen. Er hat gehofft, dort noch den Ober des Klosters zu treffen. Es ist gelungen. Tischendorf wurde in Kairo auch mit Ehren empfangen, ähnlich wie früher im St. Katharinenkloster. Der Ober ist der Bitte von Konstantin sofort entgegengekommen und hat einen Beduinen ins Kloster geschickt, damit er so schnell wie möglich die Handschrift nach Kairo bringt. Derjenige hat das Kamel bestiegen und nach neun Tagen war er mit dem wertvollen Fund wieder in Kairo. Am 24. Februar gelangte der Kodex in die Hände von Tischendorf. Der Forscher ging gleich mit der Arbeit los.

Das Verlorengehen des Kodex im St. Katharinenkloster befürchtend, hat Tischendorf den Mönchen einen Vorschlag gemacht: er suggerierte, dass sie ihn dem Zaren als Protektor der orthodox-russischen Kirche als Gabe übergeben könnten. Der Vorschlag wurde enthusiastisch angenommen. Als der Wissenschaftler fast schon sicher seines Erfolgs war,  ist er plötzlich auf Hindernisse gestoßen. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass der neu gewählte Erzbischof in Kairo, der Spender sein sollte, noch nicht geweiht wurde und seine Wahl – noch nicht bestätigt. Man musste also warten. Inzwischen begann der Patriarch von Jerusalem gegen die Bestätigung dieser Wahl heftig zu protestieren, was die ganze Prozedur noch verlängern musste. Tischendorf hat beschlossen, unverzüglich nach Jaffa und Jerusalem zu fahren. In derselben Zeit ist der Großfürst von Russland, nomen est omen auch Konstantin, ebenfalls in Jaffa angekommen. Tischendorf hat ihn auf dem Weg nach Jerusalem begleitet.

Nach der Rückkehr in Kairo hat auf Tischendorf eine große Enttäuschung gewartet. Der Patriarch von Jerusalem widerstrebte sich immer noch dem neu gewählten Erzbischof von Kairo, deshalb wurden in Konstantinopel keine Entscheidungen in dieser Angelegenheit getroffen, weil man auf eventuelle Intervention des Sultans gewartet hat. Es gab aber keine. Trotz des guten Willens der Mönche vom Sinai blieb der Kodex immer noch im Kloster „gefangen”. Tischendorf entschied sich nach Konstantinopel zu fahren. Dort wurde er vom Fürsten Lobanow, dem russischen Botschafter in der Türkei, sehr warm empfangen. Der Diplomat hat ihn nicht nur sehr freundlich behandelt, sondern hat ihn sogar in seinem Sommerhaus am Bosporus bewirtet. Dank der guten Lage des Hauses war es für Tischendorf viel einfacher, zu den Verhandlungen zu kommen. Diese haben sich als sehr schwierig erwiesen, weil der Patriarch von Jerusalem unnachgiebig war. Schließlich, als der neu erwählte Erzbischof von Kairo persönlich nach Konstantinopel gekommen ist, ist dem Bibelforscher gelungen, die Behörden zur Akzeptanz der Wahl zu überreden. Am 27. September ist Tischendorf nach Kairo zurückgekehrt, wo ihn der gewählte Erzbischof persönlich begrüßte, und dann hat er ihm den Kodex vom Sinai als eine Art Darlehen gereicht, damit er ihn dem Zaren in Petersburg zeigen und möglichst genau kopieren kann. Eben damals hat das Petersburger Abenteuer von Tischendorf begonnen, das zur Veröffentlichung der ältesten Bibel in der Welt, mit allen Büchern, führen sollte.

Der von Tischendorf und seinen Freunden kopierte Kodex enthält das ganze Neue Testament und einen großen Teil des Alten Testaments, in der griechischen Übersetzung in der Version von Septuaginta. Er gehört zu der sog. Alexandrinischen Tradition und wurde in der Unziale geschrieben, also einer Art Schrift, die in den Kodexen zwischen dem 4. und 10. Jh. benutzt wurde. Es ist eine Art der Majuskelschrift. Es wurde Schafs- und Ziegenleder benutzt, und die Tinte war schwarz und braun; nur die Titel der einzelnen Psalmen und des Hohen Liedes wurden rot geschrieben. An der Handschrift haben drei Schreiber und mindestens vier Korrektoren gearbeitet. Sie haben ohne Trennung in Worte und Sätze, ohne Interpunktion geschrieben (scriptio continua). Nomina sacra, d.h. „heilige Namen”, wurden ganz oder in Abkürzungen geschrieben (z.B. statt Jesous wurde JS geschrieben). Eine interessante Einzelheit ist, dass der Kodex vom Sinai als der einzige von den entdeckten, in vier Spalten aufgeschrieben wurde. Jede Spalte zählt 48 Zeilen, in den 12 bis 14 notiert wurden. Die einzigen Dichtungsbücher des Alten Testaments – wie es oben erwähnt wurde – wurden in dem sog. Stichometrum in zwei Spalten aufgeschrieben.

Neben dem Kodex von Vatikan gilt er als die wichtigste Handschrift des Neuen Testaments und der drittwichtigste, wenn es um den Text der Septuaginta geht. Neben den vom Hebräischen übersetzten Büchern, die in den Kanon der Hebräischen Bibel gelangten, enthält der Kodex auch deuterokanonische Bücher sowie Apokryphe: das Zweite Buch von Esra, das Buch von Tobias, das Buch von Judith, vier Machabäer, das Buch der Weisheit und Ecclesiasticus. Am Ende des Neuen Testaments wurde der apokryphische Brief von Barnaba und das frühchristliche Werk u.d.T. „Der Hirt von Hermas” angeschlossen. Die Ganzheit zählt wahrscheinlich 730 Pergaminblätter, deren Größe heutzutage 37 x 34 cm beträgt. Die Forscher sind nicht einig in Bezug auf den Entstehungsort der Handschrift. Heute überwiegt die Meinung, dass er im 4. Jh. in Ägypten entstanden ist (z.B. in Alexandrien) oder in Caesarea Maritima in Palestinien. 332 hat Kaiser Konstantin Eusebius aus Caesarea die Anfertigung von fünfzig Bibelkopien für die kirchlichen Gemeinschaften in Konstantinopel empfohlen. Bis vor kurzem dachte man, dass der Kodex vom Sinai eine von ihnen ist, heute jedoch wird diese Hypothese für weniger wahrscheinlich gehalten.

Der deutsche Forscher wollte den Kodex bei den Mönchen nicht liegen lassen, und weil sie dem Zaren von Russland gegenüber loyal waren, hat er sie angeblich dazu überredet, den Kodex dem Herrscher Alexander II. als Geschenk zu geben. Im November 1859 sind 347 Pergaminblätter nach Russland gefahren, und drei Jahre später haben sie der Ausstellung zum Tausendjahrjubiläum des Staates Glanz verleiht. Bevor jedoch der Kodex in das Land an der Wolga angetroffen ist, musste Tischendorf seine diplomatischen Fähigkeiten in Istanbul versuchen, weil die Behörden manche Schwierigkeiten mit der Erlaubnis für die Ausfuhr des Buches machten. Dadurch bekam der Forscher mehr Zeit für die Bearbeitung des Fundes, die mit vier Bänden von Bibliorum Codex Sinaiticus Petropolitanus endete, 1862 veröffentlicht. Bereits damals begann man von dieser Entdeckung als vom Kodex vom Sinai zu sprechen. Die Jahre vergingen. Als  die Sowjets an die Macht gelangten, waren sie an biblischen Texten nicht interessiert. So wurde der Kodex von dem Britischen Museum für hundert tausend damaliger Pfund gekauft. Der Kauf fand genau an Weihnachten statt. In  Sankt Petersburg sind lediglich drei kleine Fragmente vom Kodex geblieben.

In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist in dem Kloster am Sinai ein Brand ausgebrochen. Als man mit der Renovierung begann, haben die Mönche eine alte Zelle gefunden. Ihr Gewölbe ist einfach zusammengestürzt und die Mönche konnten einige zehn antike Bücher sehen. Manche von ihnen waren über tausend Jahre alt. Sie waren auf Griechisch, Syrisch, Arabisch geschrieben. Unter ihnen befand sich eine Kopie von „Ilias” aus dem 8. Jh., versehen mit einer Übersetzung in Prosa in das zeitgenössische Griechische. Das Griechische Buch Genesis wurde in das 5. Jh. datiert. Man fand auch einige fehlende Blätter aus dem Kodex vom Sinai. Diese Entdeckung hat den Ordensbrüdern die größte Freude gemacht. Mindestens so viel vermochten sie vor Tischendorf zu retten! Die Mönche aus dem St. Katharinenkloster sind nämlich der Meinung, dass sich der Forscher den Kodex angeeignet hat, obwohl er ihn doch nur ausleihen sollte. Als Beweis dafür für die Touristen haben sie an die Klostermauer die Übersetzung des Briefes von Tischendorf gehängt, in dem er sich zur Rückgabe des Pergaminbuches verpflichtet hat. Die weitere Korrespondenz, aus der klar und deutlich erfolgt, dass sie auf das Recht auf den Kodex verzichtet haben, haben sie jedoch nicht übersetzt.